Nabokovs Berlin              
 Botanisieren

„Auf dem Asphalt botanisieren“: Nabokov in Berlin

Isabelle Guntermann, Bochum

 „Ich meine, dass eben hierin der Sinn schöpferischer Literatur besteht: [...] in den Dingen unserer Umwelt jene duftige Zartheit aufzuspüren, die erst unsere Nachkommen erkennen und zu schätzen wissen werden, in jenen fernen Tagen, wenn jede Bagatelle unseres platten Alltagslebens von vornherein erlesen und festlich wirken wird“[1]. Vladimir Nabokov, Russe, Boxtrainer, Schmetterlingssammler, Frauenfreund und Verfasser des Skandal-Romans „Lolita“, notiert diese Sätze in seinem Berliner Exil. Nabokov weiß zu dieser Zeit schon, was Verlust ist. Als er in Berlin ankommt, hat die Revolution seine Kinderwelt längst dem russischen Erdboden gleichgemacht. Und nur wenig später, nach seiner Flucht aus Deutschland, wird auch das alte Berlin zerstört. Daher sein Impuls, angesichts der großen Katastrophen seiner Zeit die kleinen Dinge durch ihre lyrische Beschwörung zu retten. Nabokov baut sich ein poetisches Berlin-Museum. Wie absichtslos flaniert er durch den Stadtraum, geht nach den Worten Walter Benjamins „auf dem Asphalt botanisieren“. Und unter seinem naiv-ironischen Staunen erstehen die Wunder des Alltagslebens: das behäbige Brandenburger Tor, breithüftige Omnibusse, mandarinenfarbene Stoßzähne eines Automobils, eine alte Blumenfrau mit einem gewaltigen Wollbusen, ein unterwürfiger Schuhputzer, und „sehr tief, sehr fern und sehr langsam schwebt über allem ein Luftschiff“[3].

Nabokov lebt lange in Berlin, von 1922 bis 1937. In Berlin wird sein Vater ermordet; in Berlin heiratet er seine Frau Vera; in Berlin wird Nabokovs einziges Kind, Dmitrij, geboren; in Berlin verhaftet die Gestapo seinen jüngeren Bruder Sergej. Nabokov kommt nicht freiwillig nach Berlin, und ebenso wenig wird er freiwillig diese Stadt wieder verlassen. Vielmehr bildet Berlin eine „Zwischenstation“[4] auf seiner Flucht, die ihn, wie viele seiner Landsleute, erst vom bolschewistischen Russland nach Deutschland, dann vom Nazi-Deutschland nach Amerika verschlägt: „Blaue Abende in Berlin [...]. Verwirrung, Armut, Liebe und eine geradezu physisch-schmerzende Sehnsucht nach dem noch frischen Geruch Russlands“[5] - dies ist Nabokovs Bilanz aus 15 Jahren Berlin.

1899 in St. Petersburg geboren, erlebt Nabokov im vorrevolutionären Russland eine vollkommene Kindheit. Seine Kinder-Welt ist opulent, großzügig, weitherzig, inspirierend. Der Vater ist Hofjunker mit adeliger Abstammung, der sich am Petersburger Hof trotz seiner anglophil-demokratischen Neigung als prominenter Jurist einen Namen macht. Nabokov ist ein verwöhntes Kind. 50 Dienstboten stehen seiner Familie zur Verfügung[6]. Früh lernt er von Gouvernanten Englisch und Französisch. Daneben bekommt er Unterricht im Tanzen und Reiten, Boxen und Tennisspielen – das übliche Erziehungsprogramm für privilegierte Söhne. Die väterliche Bibliothek umfasst 10000 Bände inklusive Privatsekretärin: hier lernt Nabokov lesen. Bereits mit fünfzehn Jahren soll er die gesammelten Werke von Tolstoj, Shakespeare und Flaubert in der jeweiligen Originalsprache gelesen haben.

„[J]ener abgeschmackte Deus ex machina, die russische Revolution“[7] beendet den kindlichen Traum von einer gelebten Vollkommenheit. Als 1917 die Oktoberrevolution ausbricht, muss die Familie Nabokov fliehen, zunächst auf die Krim, dann, nach dem Einmarsch der Roten Armee, über Konstantinopel nach England. Während die Söhne Vladimir und Sergej in London studieren, übersiedelt der Rest der Familie 1920 nach Berlin, wo der Vater mit einem früheren Parteifreund, Joseph Hessen, die erfolgreiche Berliner Emigrantenzeitschrift „Rul’“ (Ruder) gründet.  

Nabokovs letztendliche Ankunft in Berlin, er ist 23 Jahre alt, steht unter düsteren Vorzeichen. Am 28. März 1922 wird sein Vater in der Berliner Philharmonie bei einem Vortrag seines Parteifreundes Pavel Miljukov von monarchistischen Attentätern ermordet. Miljukov, dem eigentlich die Schüsse gelten, kommt mit dem Leben davon. Die beiden Täter werden noch vor Ort festgenommen. Sie sind den deutschen Behörden nicht unbekannt – Mitglieder einer rechtsextremen Monarchistenorganisation, die in Kontakt mit Nationalsozialisten steht. Einer der beiden, Sergej Taborickij, macht Anfang der 30er Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft bei der Berliner Gestapo Karriere, wo ihm Nabokov noch einmal, am Ende seiner Berliner Zeit, begegnen wird.  

Nabokov zieht zur Mutter nach Deutschland. Berlin ist ihm nicht unbekannt, er kennt die Stadt schon seit seiner Kindheit. Von kurzen Zwischenaufenthalten des Nordexpress auf seinem Weg von Russland an die Riviera. Von Besuchen bei einem amerikanischen Orthodontisten, der Zähne zieht und den Kiefer mit Zwirn zusammenschnürt und dessen Straßename - „In den Zelten 18 a“ – dem Kind „auf trochäischen Tanzfüßen“ entgegentänzelt[8]. Von Grubers berühmtem Schmetterlingsladen an der Passage „Unter den Linden“, Nabokovs „kampferhaltigem Paradies“[9], in dem er zum Trost für die dicke Backe Grüne Zipferfalter oder Weißlinge bewundern darf. Von Rollschuhbahnen, auf denen er die weiblichen Formen für sich entdeckt, deren intensive Betrachtung jedes Mal eine „rätselhafte Beschwerde“ hervorruft – „eine von vielen absurden Kombinationen der Natur, mein Junge“, so erklärt es ihm der Vater, hinter der deutschen Zeitung versteckt[10].  

Berlin ist zur Zeit von Nabokovs Ankunft längst zu einem „Moskau an der Spree“ mutiert. Die Hauptstadt der Weimarer Republik entwickelt sich seit Anfang der 20er Jahre zum ersten Zentrum der russischen Emigranten. Die einen, die antibolschewistische wie revolutionär gestimmte Intelligencija sowie monarchistische Aristokraten, hoffen auf ein baldiges Ende der Revolution. Sie versprechen sich vom nahen, aber sicheren Berlin aus eine schnelle Rückkehr in die Heimat. Namhafte Schriftsteller, wie Boris Pasternak, Maksim Gorkij, Aleksej Remizov, Andrej Belyj, Aleksej Tolstoj und Viktor Šklovskij hängen zwischen 1921 und 1923 in der Berliner Warteschleife. Die anderen ziehen ökonomische Vorteile aus dem Standort Berlin: Die Inflation bietet Besitzern von Devisen und Gold lukrative Transaktionsgeschäfte. Eben diese Spekulanten prägen dem Kurfürstendamm den Namen „NEPskij-Prospekt“ auf - in Anlehnung an die Petrograder Prunkmeile und in Anspielung an die Neue Ökonomische Politik (NEP)[11]

Innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich in Berlin eine dichte russische Kulturlandschaft, bestehend aus Geschäften, Kaffeehäusern, wie das berühmte Café Leon am Nollendorfplatz, literarischen Zirkeln und Verlagen mit, wie Nabokov beklagt, „labil“ und „ein wenig illegal“ wirkenden Namen[12]: Orion, Kosmos oder Logos. 1922 und 1923 werden in Berlin mehr Bücher in russischer Sprache herausgebracht als in Moskau oder Petrograd[13]

Nabokov hat Heimweh. So pubertierend-poetisch seine ersten Eindrücke von Berlin sind - als Exilant bleibt Nabokov hier immer ein Fremdkörper: „Das russische Berlin der Zwanziger Jahre“, so schreibt er in einem Nachruf auf Joseph Hessen im Jahre 1942, „war ein einziges möbliertes Zimmer, das von einer groben und stinkenden Deutschen ... vermietet wurde“[14].  

Nabokov ist gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.  Er gibt Englisch- und Französisch-Unterricht, verfasst Kreuzworträtsel und komponiert Schachprobleme für russische Exilzeitschriften. Die Romanze mit einer russischen Schauspielerin bringt Nabokov ins Filmgeschäft. In den Berliner Studios der UFA arbeitet er gegen geringe Bezahlung als Komparse – dass er dabei nach Darstellung seines Sohnes Dmitrij unter anderem auch in „Doktor Mabuse“ von Fritz Lang als Statist mitgewirkt hat, gehört wohl eher zur Legendenbildung um den Dichter[15]

Um seine Familie weiter finanziell unterstützen zu können, gibt Nabokov Tennisstunden. Er trainiert Boxer im Ring und lässt hin und wieder seine Fäuste auch in Kneipen spüren. Nebenher frönt Nabokov jener „edlen Kunst“, die für ihn „immer von der Aura eines beispiellosen Glanzes umgeben“ war: Fußball. Viele Jahre lang spielt er als Torwart in einer russischen Mannschaft in Berlin, für ihn eine delphische Aufgabe und Möglichkeit, dem banalen Alltag für Minuten zu entfliehen: „Ich war weniger Hüter eines Fußballtores als Hüter eines Geheimnisses. Während ich mich mit verschränkten Armen an den linken Torpfosten lehnte, [...] dachte [ich] an mich wie an ein sagenhaftes exotisches Wesen, das [...] in einer Sprache, die niemand verstand, Verse über ein entlegenes Land dichtete, das niemand kannte.“[16] 

In den Berliner Jahren entwickelt sich Nabokovs dichterisches Genie. Hier entsteht sein gesamtes Werk in russischer Sprache. Neben Gedichten schreibt Nabokov insgesamt sieben Romane, darunter „Mašenka“ (1926), „König Dame Bube“ (1928) – die Initialen der russischen Version, „Korol’, Dama, Valet“, spielen auf das Berliner Kaufhaus KaDeWe an - „Lužins Verteidigung“ (1930) und, teilweise noch, „Die Gabe“ (1937/38). Berlin erscheint in diesen Texten als magische Kulisse, hinter deren transparenter Fassade das alte, für Nabokov verlorene Russland wieder aufscheint: „Das verlorene Paradies seiner Kindheit gewann Nabokov im schöpferischen Akt selbst, [...] wo das Knirschen von Kies, ein durchs Laub fallender Sonnenstrahl oder eine kindliche Erkältung wichtiger ist als alle großen Ideen.“[17] 

Bei all der stiefmütterlichen Zurückweisung seines unfreiwilligen Exils ist Nabokov heimlich verliebt in die Stadt. Zu den schönsten Texten, die Nabokovs amour fou zu Berlin verdeutlichen, gehört sein „Stadtführer durch Berlin“ aus dem Jahre 1930, eine Nabokovsche Leseanweisung für die poetische Topographie der Stadt, die von „Röhren, Straßenbahnen und anderen hochwichtigen Dingen“[18] erzählt. Der erste der Texte, die der skurrile Stadtführer versammelt, behandelt das Ereignis von auf die Straße gelegten Abflussrohren, den „eisernen Eingeweiden der Stadt“, auf die jemand mit dem Finger „Otto“ geschrieben hat – „mir schien“, so erklärt uns unser russischer Berlinkenner, „dieser Name mit seinen beiden O’s ... passe wunderbar zu der stillen Schneeschicht auf jener Röhre mit ihren beiden Öffnungen und ihrem verschwiegenen Tunnel“[19]. Im Kapitel „Straßenbahnen“ erfährt der Reisende Sehenswertes über die Hände von Schaffnern, die „nicht schlaff und schweißig sind“, sondern „so rau, dass einen eine Art moralisches Unbehagen überkommt“[20]. Sodann wird der Blick des Berlin-Touristen auf Bäckerjungen gelenkt, die „etwas Engelhaftes“ besitzen, und er soll die „chromgelben Tierkörper mit rosa Flecken und Arabesken“ bewundern, die im „roten Laden des Schlachters“ ausliegen[21]. Jede Stadt, so belehrt Nabokov den Berlin-Touristen zuletzt, hat sein „Eden“ und dieses „Eden“ ist in Berlin der Zoo, der „an den feierlichen und zarten Anfang des alten Testaments“ gemahnt. Man sollte, so der Stadtführer, den Zoo vor allem im Winter besuchen. Besonders sehenswert sei das Haus der Amphibien, Insekten und Fische: „Und versäumen Sie ja nicht, bei der Fütterung der Riesenschildkröten zuzusehen.“[22] 

1937 begegnet Nabokov dem Mörder seines Vaters wieder. Nabokov ist seit 1925 verheiratet mit Vera Slomina, Tochter einer begüterten Familie aus St. Petersburg, die auch nach 1933 zu ihrer jüdischen Herkunft steht. Als Nabokov herausfindet, dass in dem Amt der Russischen Vertrauensstelle für die Ausstellung der überlebenswichtigen „Ariernachweise“ ausgerechnet der vorzeitig aus der Haft entlassene Taborickij zuständig ist, begreift er, dass Vera und er Berlin verlassen müssen. Über Frankreich, wo sie bis 1940 bleiben, entkommen sie im letzten Augenblick vor dem Einmarsch der Deutschen in Richtung Amerika. Nabokov betritt nie wieder deutschen Boden.


[1]   Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“. In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, Berlin 2001, S. 19.
[3]   Nabokov, Vladimir: „Ein beschäftigter Mann“. In: Nabokov, Vladimir: Gesammelte Werke 13. Erzählungen 1921-1934, Reinbek 1989, S. 498f.
[4]   Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 7.
[5]   Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie, Reinbek 1999, S. 382.
[6]   Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 55.
[7]   Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 308.
[8]   Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 276.
[9]   Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 276.
[10]  Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 280.
[11]  Urban, Thomas: Vladimir Nabokov - Blaue Abende in Berlin, Berlin 1999, S. 15f.
[12]  Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 382.
[13]  Urban, Thomas: Vladimir Nabokov, S. 21.
[14]  Z.n. Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 10.
[15]  Urban, Thomas: Vladimir Nabokov, S. 64f.
[16]  Nabokov, Vladimir: Erinnerung, sprich, S. 364.
[17]  Erofeev, Viktor: „’Lolita’ von Vladimir Nabokov“. ZEIT 45/1999.
[18]  Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“. In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 16.
[19]  Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“.In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 16.
[20]  Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“. In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 18.
[21]  Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“. In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 20.
[22]  Nabokov, Vladimir: „Berlin - Ein Stadtführer“. In: Zimmer, Dieter E.: Nabokovs Berlin, S. 26.

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