Wolke, Burg, See

Wolke, Burg, See [1]

Einer meiner Vertreter - ein bescheidener, freundlicher Junggeselle, sehr tüchtig - gewann auf einem von russischen Flüchtlingen veranstalteten Wohltätigkeitsball eine Vergnügungsreise. Das war 1936 oder 1937. Der Berliner Sommer stand in vollen Fluten (es war die zweite Woche kalten und feuchten Wetters und ein Jammer zu sehen, was alles umsonst grün geworden war, und nur die Spatzen blieben guter Dinge); er hatte keine Lust, irgendwohin zu fahren, aber als er versuchte, im Amt für Vergnügungsreisen seine Fahrkarte zu verkaufen, erfuhr er, daß es dazu einer besonderen Genehmigung des Verkehrsministeriums bedürfe; als er es dort versuchte, stellte sich heraus, daß er zuvor bei einem Notariat einen komplizierten vorgedruckten Antrag einreichen müsse; und außerdem mußte man sich bei der Polizei eine so genannte »Nichtabwesenheitsbescheinigung für die Sommermonate« beschaffen. Also seufzte er ein wenig und beschloß zu reisen. Er lieh sich von Freunden eine Aluminiumflasche, ließ seine Schuhe besohlen, kaufte einen Gürtel und ein modisches Flanellhemd - eines jener feigen Biester, die sich schon in der ersten Wäsche klein machen. Übrigens war es zu weit für diesen liebenswerten kleinen Mann mit dem immer sorgfältig geschnittenen Haar und den klugen und gütigen Augen. Ich kann mich im Augenblick nicht an seinen Namen erinnern. Ich glaube, er hieß Vasilij Ivanovič ...

Es sollten - leider - mehrere Personen an dieser Reise teilnehmen ... Am Schalter 6, um 7 Uhr früh, wie in der Anweisung angegeben, die an die Fahrkarte geheftet war, sah er sie (sie warteten schon; es war ihm gelungen, ungefähr drei Minuten zu spät zu kommen). Ein hoch aufgeschossener, blonder junger Mann in Tirolertracht fiel sogleich auf. Er war rot gebrannt wie ein Hahnenkamm, hatte ziegelrote Knie mit goldenen Härchen darauf, und seine Nase sah aus wie lackiert. Er war der Führer, den das Reiseamt stellte, und sobald der Neuankömmling die Gruppe erreicht hatte (die aus vier Frauen und ebenso vielen Männern bestand), führte er alle an einen Zug, der hinter anderen Zügen verborgen stand, trug dabei seinen monströsen Rucksack mit schreckenerregender Leichtigkeit und stampfte mit seinen Nagelschuhen fest auf.

In einem leeren Wagen, eindeutig dritter Klasse, fand jeder Platz, und Vasilij Ivanovič, der sich abseits gesetzt und einen Pfefferminzbonbon in den Mund gesteckt hatte, öffnete einen kleinen Band Tjutčev, den er schon lange wieder einmal lesen wollte; aber er wurde ersucht, das Buch zur Seite zu legen und sich der Gruppe anzuschließen ... Die Gesellschaft begann laut zu werden. Vier Angestellte der gleichen Baufirma warfen einander schwere Scherze zu: ein Mann mittleren Alters, Schulze, ein jüngerer Mann, auch Schultz, und zwei zappelige Frauen mit großem Mund und großem Hinterteil. Die rothaarige, ziemlich burleske Witwe im Sportrock kannte Russland auch ein wenig (den Strand von Riga). Außerdem gab es noch einen dunkelhaarigen jungen Mann namens Schramm mit glanzlosen Augen und einer vagen, samtweichen Niedertracht in Wesen und Manieren, der ständig die Unterhaltung auf diesen oder jenen Vorzug der Reise lenkte und das erste Signal zu entzücktem Lob gab; er war, wie sich später herausstellte, ein vom Amt für Vergnügungsreisen mitgeschickter Stimmungsmacher. Die Lokomotive eilte mit fuchtelnden Ellbogen durch einen Kiefernwald, dann - gelassener - zwischen Feldern hindurch. Da er vorläufig die ganze Absurdität und Schrecklichkeit der Situation nur dunkel ahnte und sich vielleicht einzureden versuchte, dies alles sei doch ganz nett, brachte Vasilij Ivanovič es fertig, die schnell dahinfliegenden Gaben der Strecke zu genießen ... Bäume tauchten auf, einzeln und in Gruppen, drehten sich kühl und gefällig und führten die neuesten Moden vor. Die blaue Feuchte eines Hohlwegs. Eine Liebeserinnerung, als Wiese verkleidet. Wuschelige Wolken - Windspiele des Himmels... Aber man konnte immer nur kurze Zeit aus dem Fenster sehen ... Es waren an alle vom Reisebüro Noten mit Versen verteilt worden:

Spinne nicht, sei unverdrossen,
Nimm den Knotenstock zur Hand,
Such dir muntre Weggenossen
Und durchstreife Feld und Land.
Gras und Stoppeln untern Sohlen,
Muntre Burschen um dich her:
Sorgen soll der Teufel holen.
Sei kein Eigenbrötler mehr!
Es marschiert und schwitzt ein jeder,
Und die Feldmaus stirbt und schreit.
Kerle ganz aus Stahl und Leder
In der Heideeinsamkeit.

Das sollte gemeinsam gesungen werden: Vasilij Ivanovič, der nicht nur nicht singen, sondern nicht einmal die deutschen Worte klar aussprechen konnte, nutzte den ohrenbetäubenden Lärm dazu, einfach nur den Mund weit aufzureißen und sich leise hin und her zu wiegen, als ob er wirklich sänge - aber auf ein Zeichen des heimtückischen Schramm stoppte der Führer plötzlich den allgemeinen Gesang und forderte Vasilij Ivanovič mit einem seitlichen Blick auf, allein zu singen. Vasilij Ivanovič räusperte sich, begann zaghaft, und nach einer Minute einsamer Qual stimmten alle ein; aber danach wagte er es nicht mehr auszusetzen ...

Er mußte Karten spielen. Sie zerrten ihn herum, fragten ihn aus, prüften, ob er die Reiseroute auf der Karte zeigen könne - mit einem Wort, alle befaßten sich mit ihm, zuerst gutmütig, dann voller Bosheit, die mit dem Herannahen der Nacht zunahm ... alle wuchsen sie nach und nach zusammen, verschmolzen miteinander, bildeten ein kollektives, wabbelndes, vielhändiges Wesen, dem man nicht entfliehen konnte. Es drang von allen Seiten auf ihn ein ...

»Freunde!« rief er, als er wieder zur Wiese am Seeufer hinabgerannt war, »Freunde, auf Wiedersehen! Ich bleibe für immer in dem Haus da drüben. Wir können nicht zusammen weiter reisen. Ich gehe nicht weiter. Ich gehe nirgends mehr hin. Auf Wiedersehen!« »Was soll das heißen?« sagte der Führer mit sonderbarer Stimme nach kurzer Pause ... »Sie haben wahrscheinlich getrunken«, sagte er ruhig. »Oder Sie haben den Verstand verloren. Ich bin für jeden von euch verantwortlich und werde jeden Einzelnen von euch zurückbringen, tot oder lebendig.« ... Sobald ... der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, fingen sie an, ihn zu schlagen - sie schlugen ihn lange und mit großer Erfindungsgabe. Es fiel ihnen unter anderem ein, einen Korkenzieher an seinen Handflächen zu probieren; dann an seinen Füßen. Der Postbeamte, der in Russland gewesen war, machte aus einem Stock und einem Gürtel eine russische Knute und gebrauchte sie mit teuflischer Geschicklichkeit. Gut so, gib ihm Saures! Die anderen Männer verließen sich mehr auf ihre eisenbeschlagenen Absätze, während die Frauen sich damit begnügten, zu kneifen und zu schlagen. Alle hatten einen Heidenspaß.

Als er in Berlin zurück war, suchte er mich auf, war sehr verändert, setzte sich still nieder, ... bestand darauf, daß er nicht weiter machen könne, daß er nicht die Kraft habe, länger der Menschheit anzugehören. Natürlich ließ ich ihn gehen.



[1] V. Nabokov , Wolke, Burg, See. Erzählung, 1937, S. 105-118

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